Laufen ist alles andere als schnelles Gehen …

Patrick Lange bei seinem Sieg beim Ironman Hawaii 2017… diese Aussage klingt sehr trivial und lässt manch Läufer mit einem Fragezeichen im Gesicht zurück. Wie viel Wahrheit hinter diesem Satz steht, wird einem erst bewusst, wenn man sich mit dem momentan wohl erfolgreichsten Laufcoach im Triathlonbereich, Wolfgang Schweim, unterhält.

 

Seit Patrick Lange letztes Jahr auf Hawaii mit neuem Lauf-Streckenrekord von 2:39:45 Stunden seinen ersten ganz großen Erfolg mit Rang drei feiern konnte und erst recht nach seinem diesjährigen Kona-Sieg und Laura Philipps drittem Rang bei der diesjährigen Ironman-70.3-Weltmeisterschaft steht Wolfgang Schweim nicht ohne Grund im Blickpunkt vieler Triathleten und Läufer.

Um sein Konzept vom schnellen und effizienten Laufen zu verstehen und im Optimalfall umsetzen zu können, muss man den Menschen Wolfgang Schweim kennenlernen, seine persönliche Laufgeschichte erfahren und bereit sein, sich auf etwas „Neues“ einzulassen. Selbst Profi-Triathleten und -Läufer müssen bei ihm im sogenannten Basiskurs beginnen, um seine Laufphilosophie von der Pike auf zu verstehen.

Ich erfinde das Laufen nicht neu!

Wer ist Wolfgang Schweim, der auch unter dem Begriff „Running Wolf“ bekannt ist, und was macht ihn als Lauftrainer so erfolgreich? Wir haben den 65-Jährigen in seinem Urlaubsdomizil auf Mallorca besucht, ein spannendes Lauf-Coaching und einen sehr interessanten Menschen kennengelernt. „Die Erfolge von Patrick Lange und Laura Philipp sind absolute Glücksfälle für mich, das ist mir bewusst“, eröffnet der Laufexperte unser Gespräch und ergänzt: „Das Laufen habe ich deswegen sicherlich nicht neu erfunden, aber ich habe einen besonders ganzheitlichen Blick auf das Thema und beziehe logische und physikalische Regeln in mein Verständnis von einem ökonomischen und schnellen Laufstil mit ein. Und das sieht man bei Patrick und Laura. Was sich im ersten Moment vielleicht komisch anhört: Ich beschäftige mich intensiv mit den Persönlichkeiten der Läufer, mit denen ich zusammenarbeite.“

Wer steckt hinter dem Lauf-Guru?

Der 1952 in Bad Segeberg geborene Wolfgang Schweim ist von klein auf ein Bewegungsmensch. Er beginnt als Jugendlicher eine Ballettausbildung, die er abbrechen muss, weil ihm das Geld fehlt. Er ist Hippie, passt sich nur ungern dem System an. Seine ganze Liebe gehört der Musik. Er ist Schlagzeuger, Produzent und Texter und erfolgreich, aber der ganz große Durchbruch will nicht gelingen. Eher zufällig kommt Schweim mit knapp über 20 Jahren zum Laufen. Am Ratzeburger Küchensee beobachtet er die Leistungsruderer, die jeden Morgen eine Runde um das circa 7,4 Kilometer große Binnengewässer laufen. Das beindruckt ihn und er trainiert so lange, bis er die Strecke am Stück durchlaufen kann. Dazu muss man wissen, dass Anfang und Mitte der 70er-Jahre das Laufen als Breitensport überhaupt nicht verbreitet war – Läufer sogar für komplett verrückt erklärt wurden. Diese Tatsache beeindruckt Wolfgang jedoch wenig. Er meldet sich spontan für ein Rennen an. „Der Wettkampf war eigentlich eine Katastrophe. Die Leichtathletik-Jungs haben mich fast alle stehen lassen“, erzählt der 65-Jährige und erinnert sich an seine erste Lauferfahrung. Und dennoch war der Tag ein Erfolg. Horst Pape, Lauftrainer der schnellen Jungs, sah auf Anhieb das Talent und den Willen hinter Wolfgangs Performance und sprach ihn an. Beim nächsten offiziellen Training seiner Leichtathletikgruppe stand der damals 22-Jährige mit auf der Bahn. „Es war eine harte Schule, aber ich bin Horst Pape sehr dankbar dafür.“ Auch wenn Wolfgang nie zu den absoluten Top-Läufern gehören sollte, war seine Laufleidenschaft entfacht. Heute würden sich viele wegen seiner 32-Minuten-Zeiten auf zehn Kilometern die Finger lecken.

Laufen damals und heute

In den Zeiten unserer Großeltern war es ein Ding der Unmöglichkeit, laufen zu gehen. In den 60er-Jahren wurde man oftmals für verrückt erklärt, wenn man durch den Wald lief, da jeder Nichtsportler dachte, diese Leute würden gleich vor Erschöpfung zusammenbrechen. Marathon-Laufen in den 70ern war wie die Everest-Besteigung ohne Sauerstoffgerät von heute … für viele einfach unvorstellbar. Eine Person brachte mit seinen Erfolgen die große Jogging-Bewegung erst in Amerika und dann in Europa ins Rollen. Es war der Olympiasieger im Marathon 1972 in München – der Amerikaner Frank Shorter. Er sah gut aus, konnte reden und die Leute mit Argumenten wie „Laufen ist gesund“, „man kann auch kürzere Strecken laufen“ und „Frauen sind auch in der Lage, Marathon zu laufen“ fürs Laufen zu begeistern. So fing in den USA der Jogging- und Fitness-Boom an und kam Ende der 70er, Anfang der 80er nach Europa und Deutschland. Bis dahin lief nur, wer einem Leichtathletikverein angehörte und dies „professionell“ betrieb.

Der Jogging-Markt wurde ein interessanter Bereich für die Sportindustrie. Bis dato gab es nur einfache Laufschuhe ohne Dämpfung, was sich ab sofort ändern sollte. Es wurden Schuhe für die breite Masse der Läufer konzipiert, und diese bekamen immer mehr Dämpfung und eine höhere Sprengung im Fersenbereich. Warum eigentlich? Weil die meisten Läufer Jogger und keine Läufer waren. Sprich: Sie landeten wie beim normalen Gehen über die Ferse, bremsten ihr Gewicht ab und beschleunigten es wieder. Um diese Personen beziehungsweise ihre Fersen vor der Belastung des bis zu vierfachen Körpergewichts zu schützen, erfand die Laufschuhindustrie bis heute verschiedenen Dämpfungssysteme. „Das ist auch völlig in Ordnung. Nur schnelles Gehen, sprich Joggen, hat mit schnellem Laufen nichts zu tun. Für die breite Masse – und wir reden hier von rund 95 Prozent der Jogger mit diesem Laufstil – ist ein Dämpfungsschuh völlig in Ordnung, allerdings nicht für Läufer, die schnell und effektiv laufen wollen. Ambitionierte Läufer brauchen Schuhe mit wenig Sprengung und Dämpfung, mit einem gebogenen Leisten und am besten mit viel Platz für ihre Zehen, sprich breite Schuhe im Zehenbereich“, erklärt Wolfgang Schweim.

Wolfangs Karriere in der Laufindustrie

Eher zufällig startete auch Wolfgangs Karriere als Manager in der Sportindustrie. Ende der Siebziger schwappte die Jogging-Welle langsam, aber sicher nach Europa. Wolfgang Schweim war zu diesem Zeitpunkt klar, dass es als Musiker für ihn schwer werden könnte, seine Familie zu ernähren. Er hatte die Idee, einen Brief nach Amerika an das Headquarter von Nike zu schreiben, in dem er vorschlug, die Laufschuhe von Nike in Deutschland auf den Markt zu bringen. Wochen später kam ein Anruf. Wie es der Zufall wollte, war Nike gerade dabei, in Weiterstadt die erste Nike-Zentrale Deutschlands aufzubauen, und Wolfgang sollte sich mit dem Geschäftsführer treffen. Jetzt ging alles ganz schnell – ruckzuck war er eingestellt. Wolfgang war ein Querdenker und hatte für damalige Verhältnisse viele skurrile Ideen im Kopf. Er und sein Team führten die Musikpromotion in der Sportindustrie ein und ließen beispielsweise den Nike-Swoosh großflächig auf leere Berliner Häuserwände produzieren. Viele Medien schrieben darüber, und in kürzester Zeit wusste jeder, was Nike war und welche Bedeutung das Logo hatte. Er wurde Manager. Er arbeitete an der Schuhentwicklung mit und hatte alle Freiräume, die man sich vorstellen konnte. Nach seiner Zeit bei Nike arbeitet Wolfgang für Le Coq sportif, eine adidas-Tochter, für Asics und wurde schließlich Präsident und Geschäftsführer der amerikanischen Aktiengesellschaft Saucony in Boston. „Im guten Glauben und Gewissen habe auch ich zum Teil ‚falsche´ Schuhe auf Basis von Studien und Erhebungen bei Marathon-Rennen entwickelt. Die falsche Schlussfolgerung war: Wir wollten die Fersen schützen und haben daher die Schuhe mit Dämpfungssystemen immer weiter erhöht. Und das veränderte die Statik des Körpers. Mit dieser Überhöhung im Fersenbereich mussten die Leute tatsächlich noch früher auf der Ferse landen. Wir forcierten damit eine noch stärke Negativanpassung der Körperfunktionen“, weiß Wolfgang heute.

Auszeiten

Zwischen den einzelnen Jobs nahm er sich gerne eine Auszeit, lebte beispielsweise länger in Indien und machte eine Yoga-Ausbildung. Nachdem er fast einen Flugzeugabsturz gehabt hatte, hatte Wolfgang die Reiserei satt und kam mit etwas über 50 Jahren zurück nach Deutschland. Er ließ sich in Heidelberg nieder und kümmerte sich wieder mehr um seine Musik, bis die Anfrage bei ihm eintrudelte, ob er nicht die Laufschuhe der amerikanischen Marke „Newton“ in Europa einführen wolle. Über Newton traf Wolfgang auch das erste Mal mit Patrick Lange zusammen, der eine Sponsorenanfrage an Wolfgang geschickt hatte. Wolfgang ließ sich ein Laufvideo von Patrick zeigen und sagte ihm direkt ins Gesicht, dass sein Laufstil eine Katastrophe wäre. Patrick war verwundert und interessiert zugleich, da er zu diesem Zeitpunkt immerhin schon ganz erfolgreich in der Triathlon-Bundesliga unterwegs war, laufstark war und auch schnelle 10er-Zeiten laufen konnte. So kam es zur Zusammenarbeit. „Patrick hatte damals schon einen guten Motor. Mir war klar, dass er mit einem effizienten Laufstil viel erreichen würde. Auch heute denke ich noch, dass Patrick mit seiner Laufperformance noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht hat“, erklärt Schweim, der im Übrigen selbst immer noch täglich läuft und auch heute noch als Berater in der Laufindustrie tätig ist.

Die Laufphilosophie von Running Wolf

Wolfgang blickt auf eine über 40-jährige Laufsporterfahrung zurück. Er hat mit vielen Spitzensportlern zusammengearbeitet und viele Laufschuhe entwickelt. Man kann ohne Untertreibung behaupten, dass er ein Laufsportexperte ist. Sein gesamtes Know-how ebenso wie seine Yoga-Ausbildung fließen in sein „Art of Running“-Konzept ein. In erster Linie möchte er immer die Freude am Laufen vermitteln und darauf hinweisen, dass vieles, was wir als normal empfinden, falsch ist und wir uns nur an das Falsche gewöhnt haben. Mit Schuhen sind wir beispielsweise alle Laufmutanten und passen unsere Bewegungsdynamik an. Wer schon mal barfüßig gelaufen oder auf einer Stelle gehüpft ist, weiß, dass wir ohne Schuhe niemals auf der Ferse landen, sondern immer auf den Ballen, weil die natürliche Körperintelligenz zum Einsatz kommt. Mit Schuhen ist das häufig anders. Wir gehen über die Ferse, sprinten über den Vorfuß und ein guter Langstreckenläufer liegt irgendwo dazwischen. Bei einem Fersenläufer gehen viele Kräfte nach hinten und damit in die falsche Richtung. Wer nun denkt, es ginge um Vorfuß- oder Mittelfußlaufen, liegt völlig falsch. Wolfgangs Coaching ist eine Reise zu den Ursprüngen des Laufens und zu sich selbst.

Von der Schwerkraft zur Leichtkraft

Laufen ist grundsätzlich erst einmal schwer, weil wir die Schwerkraft überwinden und unseren Schwerpunkt dabei optimieren müssen. Laufen in Vollendung wird zur Leichtkraft. Das beste Beispiel dafür ist Patrick Lange. Viele Menschen laufen, wie sie gehen. Dieses Phänomen hat sich mit der Natural-Running-Bewegung etwas geändert, aber es geht im Endeffekt nicht darum, ob wir auf dem Vorfuß oder Mittelfuß laufen. Tatsächlich sind die Füße der letzte Punkt bei der Frage, wie wir aufkommen. Eine optimierte Laufhaltung beginnt beim Kopf, geht über die Schultern und die Arme zum Rumpf und endet erst ganz am Schluss bei den Füßen. Es bringt nichts, die Füße alleine zu betrachten. Wolfgangs Lieblingszitat lautet: „Mach oben alles richtig, und der Rest ergibt sich von alleine. Der starke Abdruck kommt nicht aus den Füßen, sondern hauptsächlich aus der Körperhaltung.“ Um eine Vorstellung von der richtigen Lauftechnik zu bekommen, arbeitet Wolfgang mit Synonymen, die man sich gut vorstellen und umsetzen kann. Effizienter laufen heißt Energie sparen. Dafür brauchen wir nach seiner Theorie auch Flexibilität, Elastizität und Mobilität in den richtigen Körperbereichen und nicht, wie viele glauben, nur starke Rumpfmuskeln. Man benötigt Körperspannung und dieses Zusammenspiel muss man erspüren. Ein Tipp von Wolfgang lautet: „Man muss sich auf das fokussieren, was ist, dann spürt man irgendwann auch, wie es zu sein hat.“

Die kompletten Geheimnisse des Wolfschen Laufkonzeptes kennen nur wenige. Dazu gehören Patrick Lange und Laura Philipp. Beide haben übrigens ein Veto-Recht, mit welchen Profis Wolfgang zusammenarbeiten darf. Alle anderen Tipps und Tricks kann man in den drei angebotenen Running-Wolf-Seminaren lernen.

 

Text: Meike Maurer
Foto: Klaus Arendt