Lebenselixier Biestmilch?

Die Bezeichnung Biestmilch kommt aus dem Althochdeutschen. Es ist der älteste deutsche Begriff für die auch Erstmilch oder Vormilch genannte Sub- stanz. Noch heute wird sie auf dem Land im Norden und Süden der Repub- lik so bezeichnet.

Auch in der Schweiz und in Holland nennt man sie ganz ähnlich »Biastmilch« oder »Beestmilk«. »Der Biast« ist umgangssprachlich auf dem Land noch immer zu hören. Im Englischen nennt man Biestmilch neben »Colostrum« auch »Beestings«. Der Ursprung des Wortes leitet sich vom dem Indogermanischen »Buskhos« ab. Die Wurzeln dieses Begriffes finden sich heute noch in Worten wie Bauch und Busen wieder. Neben Biestmilch ist auch der Begriff Kolostralmilch oder Kolostrum geläufig. Die Wissenschaft spricht von bovinem Colostrum.

Im „Biestmilch-Spezial“ hält Dr. Susann Kräftner ein Plädoyer für ihre Leidenschaft, der Biestmilch. Dabei geht die promovierte Ärztin, die auch einige Vorlesungen Soziologie und Philosophie besuchte, im Detail darauf ein, inwieweit die Biestmich ein Lebenselixier im ursprünglichsten Sinn des Wortes ist oder eine einzigartige Substanz „mit einem verlorengegangenen Selbstverständnis“ ist.

Ein kleine Geschichte aus der buddhistischen Gedankenwelt
Zwei Wanderer begegnen auf ihrem Weg durch die Savanne einem Elefanten. Wie man sich vorstellen kann, ist das ein sehr eindrückliches Erlebnis, wenn ein Tier mit diesen Dimensionen zum ersten Mal vor einem steht. Die beiden Wanderer nähern sich dem grossen Zeitgenossen aus entgegengesetzten Richtungen, und so bewegt sich der eine auf den Schwanz zu und der andere auf den Rüssel. Beide beschreiben ergriffen von ihrem Standpunkt aus, was sie sehen. Kein anderer, dem die Erzählungen der beiden Wanderer zu Ohren kommen, wird das Wesen des Elefanten erahnen können. Wenn wir also nur einen Standpunkt beziehen, werden wir das Ganze nicht begreifen. Wir müssen uns auf den Weg machen, denn Bewegung verändert Blickwinkel.

Um Biestmilch zu begreifen, muss man sich auf den Weg machen und die ausgetretenen Pfade verlassen. Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte, will aufzeigen, auf welcher Umlaufbahn im Universum der Biologie sich Biestmilch bewegt. Es ist eine lange und kontroverse Geschichte, die ich hier nur streifen kann. Biestmilch als Sustanz zu analysieren und in ihre Einzelteile zu zerlegen ist das eine. Es ist aber als würde man die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben. Sich Biestmilch anzunähern, bedeutet vielmehr auch, sich mit dem eigenen Körper zu beschäftigen, mit der Physiologie die uns im Innersten zusammenhält. Man könnte diesen Prozess mit einer Entdeckungsreise vergleichen.

Wenn ich also diesen Artikel schreibe, dann hat dieser auch viel mit mir zu tun. Biestmilch hat mich dazu genötigt, mein Denken zu verändern. Sie hat mich gelehrt zu sehen, wie eng nähren und heilen miteinander verquickt sind.

Für unsere Vorfahren war Biestmilch Nahrungsmittel und Heilmittel
Frische Biestmilch enthält alles, was ein Neugeborenes benötigt. Sie enthält ausreichend Fett, eine bakterielle Mikroflora, Immunglobuline, Hormone, Vitamine, Mineralien, Spurenelemente, Mucopolysaccharide und eine Vielzahl an Zellkommunikationsmolekülen. Sie wird in den ersten fünf bis sechs Tagen nach der Geburt langsam in Milch umgebaut und verliert dann ihren einzigartigen Charakter. Man kann Biestmilch zwar in ihre Einzelteile zerlegen, man wird aber dadurch ihre grossartigen Wirkungen nicht besser verstehen lernen. Ganz nach Aristoteles trifft für die Biestmilch zu, dass das Ganze mehr ist als nur die Summe seiner Einzelteile.

Noch bis ins erste Drittel des letzten Jahrhunderts war Biestmilch in der Küche zu Hause und als Heilmittel anerkannt. Noch heute findet man Rezepte von Mehlspeisen, die mit Biestmilch gemacht werden. Menschen, die sie einmal probiert haben, kommen ins Schwärmen. Es gäbe nichts besseres als zum Beispiel den Strietzel mit Biestmilch zu backen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts konnte man noch ohne Probleme frische Biestmilch bekommen. Heute muss sie als Lebensmittel deklariert und deshalb entsprechend verarbeitet werden. Dazu komme ich aber gleich noch. Für unsere Vorfahren war sie ein wertvolles Nahrungs- und Heilmittel. Sie wurde geachtet und war dem Nachwuchs, den Kranken, den Alten und den kränklichen Kindern vorbehalten. Das Wissen um ihre Kraft ist uns heute verloren gegangen. Nur noch vereinzelt finden sich Menschen, die ganz selbstverständlich das Wissen über ihre Besonderheit in sich tragen. In unseren Breiten wird sie vom Bauern vielfach entsorgt, sobald das Kalb seinen Anteil bekommen hat.

Wir machen den Fehler das Ganze zerlegen zu wollen, um es zu verstehen
Die Moderne und damit die zunehmende Dominanz der Naturwissenschaften haben diese Substanz ins Abseits gedrängt. Ihre Vielfalt und ihr breites Wirkungsspektrum entziehen sich den meisten Forschungsansätzen. Deshalb werden ihr die publizierten Studien selten gerecht. Denn alles, was aus der Linearität ausbricht, kann die westliche Naturwissenschaft nur schwer zähmen.

Wir tun uns aus diesem Grund auch schwer, die Wirkungen von Nahrungsmitteln in all ihrer Komplexität zu verstehen, zu verstehen wie sie uns nähren und unser Wohlbefinden garantieren und zu begreifen, was letztlich ihre Qualität ausmacht. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass unser Wissen über die Physiologie des nicht-erkrankten Organismus immer noch sehr begrenzt ist, da wir uns viele Jahrzehnte nur mit der Pathologie, also den kranken Körpern, befasst haben. Erst jüngst haben Wissenschaftler begonnen, Lebensmittel aus einem anderen Blickwinkel heraus zu betrachten, sie nämlich als eine Vielzahl bioaktiver Moleküle zu sehen, die mit unserem Körper interagieren. Eine Entdeckung, die sich als bahnbrechend für die weitere Erforschung von Lebensmitteln herausstellen und eine Trendwende in der Ernährungswissenschaft einleiten könnte, ist die Beobachtung, dass alle unsere Zellen Sensoren für die Moleküle unserer Nahrung tragen. Auf diese Weise initiieren Lebensmittel im Organismus vielgestaltige Kommunikationsprozesse und Wirkungen.

Diese These ist der sehr ähnlich, die dem Immunsystem ein eben solches sensorisches System zuordnet, das es dem Organismus erlaubt, Mikroorganismen wahrzunehmen und mit ihnen zu kommunizieren. Wenn eine ausreichende Anzahl von Molekülen aus der Nahrung mit den entsprechenden Sensoren bzw. Rezeptoren auf den Zellen interagiert, dann werden Signalwege in der Zelle aktiviert. Als Folge davon ändern die Zellen ihren Aktivitätszustand und ihre Funktion. So können beispielsweise Stoffwechselprozesse an- oder abgeschaltet werden, die Immunität gefördert oder beeinträchtigt und auch die Aktivität des Nervensystems beeinflusst werden.

Erste Schlussfolgerung
Meine vorläufige Schlussfolgerung aus diesen ersten Forschungsergebnissen ist, dass wir unsere Lebensmittel einerseits als Einheit betrachten müssen und andererseits aber als eine Komposition biologisch aktiver Moleküle, die mit unseren Körperzellen interagieren. Nahrung ist somit weit mehr als nur ein Kalorienspender, sondern moduliert die Regulationsprozesse unseres Organismus. Die Forschung hat nun den ersten Schritt zu einem Umdenkens vollzogen. Nichtsdestotrotz wird uns die Komplexität, die Textur, Form und Funktion unserer Nahrungsmittel noch viele Jahre mit unbeantworteten Fragen und widersprüchlichen wissenschaftlichen Modellen konfrontieren.

Alle Artikel zum Biestmilch-Spezial

Biestmilch: Lebenselixier oder einzigartige Substanz?
Ein Netz biologisch aktiver Moleküle
Die Wirksamkeitsdebatte
Nähren und Heilen mit Biestmilch
Hintergrundwissen Biestmilch: Herstellungsmethoden

Text | Foto/Animation: Dr. Susann Kräftner
Literaturverzeichnis