Faris Al-Sultan: I do it my way!

Als mir Faris Al-Sultan die Adresse seines Elternhauses für das geplante Interview mitteilte, war ich sehr gespannt, wie die Familie mit deutsch-irakischen Wurzeln wohl eingerichtet und in welchem urbanen Umfeld der Hawaii-Sieger von 2005 in München aufgewachsen ist. Während der knapp vierstündigen Anreise schwirrten mir immer wieder zwei Bilder durch den Kopf: Faris auf einer typisch bayerisch rustikalen Eckbank sitzend und dahinter ein Ölgemälde mit einem röhrenden Hirschen im Gebirge beziehungsweise Faris in einem arabisch ausgestatteten Salon mit Wasserpfeife und Gebetsteppich.

Die letzten Meter in der Spielstraße sind geprägt von Reihenhäusern im 70er-Jahre-Stil und gepflegten Vorgärten mit vereinzelten Gartenzwergen. Radfahrer statt Autos waren angesagt, die bei frühsommerlichen Temperaturen zu den nahegelegenen Badeseen fuhren. Vorstadtidylle pur und das in unmittelbarer Nähe des Olympiaparks.

Ich gebe offen zu, dass ich im Vorfeld schon ein wenig angespannt war, genießt Faris Al-Sultan in der Szene den Ruf, überhaupt nicht „mainstream“ zu sein, und es heißt, dass er seinen sehr eigenen Weg geht, hinsichtlich seiner Ansichten absolut kein Blatt vor den Mund nimmt und mitunter auch ziemlich grantelig sein soll. Einen objektiven persönlichen Eindruck hatte ich in den vergangenen vier Jahren nicht wirklich sammeln können, traf ich ihn bei den großen Rennen in Frankfurt und Hawaii meistens nur beiläufig. Als mir Faris die Tür öffnete und er fast gleichzeitig mit einer liebevollen Stimme, beinahe entschuldigend zu seiner Mutter ins Wohnzimmer rief „Oh Mama, ich habe dir ganz vergessen zu sagen, dass ich heute Vormittag einen Interviewtermin habe!“, war meine Anspannung mit einem Schlag verflogen.

Nestwärme statt Hotelzimmer
Faris Al-Sultan lebt den überwiegenden Teil des Jahres – sofern er nicht gerade weltweit um die bestmögliche Platzierung kämpft – in den Vereinigten Arabischen Emiraten, genauer gesagt in Al Ain, 160 Kilometer östlich der Hauptstadt Abu Dhabi. An den wenigen Tagen, die er in Deutschland verbringt, bezieht er im elterlichen Haus sein früheres „Kinderzimmer“. Auch wenn es auf den ersten Blick ein wenig befremdlich erscheinen mag, dass ein 34-Jähriger, der mit beiden Beinen voll im Leben steht, bei den Eltern kurzfristig seine Zelte aufschlägt, stellt dies für Faris Al-Sultan kein Problem dar. „Warum sollte ich mich in einem Hotel für teures Geld einquartieren oder für ein paar Wochen eine Wohnung anmieten, wenn ich bei meinen Eltern all das vorfinde, was ich benötige?“, umschreibt Faris die ungewöhnliche Situation. „Hier im Norden Münchens habe ich ein ideales Trainingsgebiet zum Radfahren und Laufen sowie kurze Wege zu mehreren Schwimmbädern und Badeseen. Außerdem spricht doch nichts dagegen, von Mama und Papa umsorgt zu werden.“ Sein Elternhaus ist für den Weltreisenden der Hafen, in dem er immer wieder gerne anlegt. Da auch sein Vater, der ein arabisches Übersetzungsbüro führt, viel unterwegs ist, stehen neben den alltäglichen Dingen des Alltags vor allem die Herausforderungen des Lebens im Mittelpunkt der Unterhaltungen. „Wenn ich meinen Eltern etwas über 300 Watt erzählen würde, bezögen sie diesen Wert sicherlich auf Haushaltsgeräte“, schmunzelt Faris Al-Sultan und kommt auf ein Trainingslager seines Radsponsors zu sprechen, bei dem ihn sein Vater eine Woche lang nach Mallorca begleitete. Beide teilten ein Doppelzimmer und waren mit Ausnahme der Trainingseinheiten rund um die Uhr zusammen. „Da auch mein Vater ein sehr aufregendes Berufsleben, verbunden mit vielen Geschäftsreisen, führt, tauschten wir uns hinsichtlich unserer Erlebnisse früherer Reisen aus, philosophierten aber auch über Empfindungen wie Angst, Schmerz und Glück beziehungsweise begannen mit den Planungen einer gemeinsamen Pilgerfahrt nach Mekka. Wir genossen die Zeit, waren jedoch beide froh, nach dem einwöchigen „Aufeinanderhocken“ jeder wieder in sein eigenes Reich „entfliehen“ zu können. Papa nach München und ich in die Emirate.“

Von ganzem Herzen Bayer
Faris schwärmt von den Vereinigten Arabischen Emiraten, denen er nicht nur aufgrund des Sponsorings seines Teams seit etlichen Jahren sehr eng verbunden ist. „Wenn man die Region über einen längeren Zeitraum hautnah miterlebt hat, stellt man fest, dass die dortigen Entwicklungssprünge schon echt krass sind. Moscheen, Luxushotels, Einkaufszentren und der Formel-1-Kurs mit angeschlossener Ferrari-Erlebniswelt schießen aus dem Boden, stellen aber erst den Anfang dar. Hält man sich dann noch die weiteren Planungen mit Louvre und Guggenheim Museum vor Augen, erscheint das selbst für mich fast schon irgendwie unwirklich, aber trotzdem ist es faszinierend und zieht mich in seinen Bann“, kommentiert Faris Al-Sultan den Bauboom rund um die Hauptstadt Abu Dhabi. Auch wenn er sich in seiner Wahlheimat sehr wohl fühlt, bezeichnet Faris Al-Sultan die Stadt München als seine wahre Heimat. Auch und gerade deshalb lief er 2004 auf Hawaii als Drittplatzierter mit der bayerischen Flagge über die Ziellinie. Die deutsche Flagge stand seiner Ansicht nach dem besten Deutschen zu, also Normann Stadler, der das Rennen für sich entscheiden konnte. Er war ja „nur“ bester Bayer. Zwölf Monate später hielt er erneut die bayerische Flagge in die Höhe, diesmal jedoch mit einem schwarz-rot-goldenem Tuch um den Hals.

Papa Faris? Erst später!
Auf die eigene Familienplanung angesprochen, entgegnet Faris Al-Sultan, dass er derzeit sein „Vagabundenleben“ genießt und noch einmal alles dafür tut, an seine sportlich erfolgreichste Zeit der Jahre rund um seinen Hawaiisieg anzuknüpfen. Auch wenn die meisten seiner Freunde und ehemaligen Klassenkameraden mittlerweile verheiratet sind und eine Familie haben, ist das zwar etwas, was er auch „irgendwann einmal haben möchte“, aber nicht jetzt und unter keinen Umständen während seiner aktiven Zeit. „Eine Familie ist gleichbedeutend mit einer enorm großen Verantwortung. Es gibt Athleten, Craig Alexander ist so ein typisches Beispiel, die Frau und Kinder um sich herum brauchen, um richtig erfolgreich zu sein. Aber das könnte ich nicht, das ist nicht mein Ding, es würde mich nur von meinen Zielen ablenken. Um ganz ehrlich zu sein, diese Vorstellung ist für mich sogar eher furchterregend“, erläutert Al-Sultan seine Sichtweise zu diesem Thema. „Glücklicherweise muss und werde ich mich nicht verrenken, um Klischees und Erwartungshaltungen der Gesellschaft zu entsprechen oder um anderen zu gefallen. Ich bin ich und so wird es auch in Zukunft bleiben. Wenn die Zeit jedoch reif für grundlegende Veränderungen ist, werde ich mich sicherlich auch mit der Familienplanung beschäftigen.“

Gute alte Zeiten
Grundlegende Veränderungen sind nach Faris’ Ansicht aber auch im Triathlonsport festzustellen und zwar nicht nur mit der Windschattenfreigabe auf der olympischen Distanz, sondern auch auf den längeren Wettkampfformaten. „Ende der Neunziger waren die Rennen bei Weitem noch nicht so stark von der Taktik bestimmt wie heute“, erinnert sich der Hawaiisieger an seine ersten Starts auf der Langdistanz. „Haben damals viele ihre Siegchancen mit einer Flucht auf dem Fahrrad nach vorne gesucht, fängt das Taktieren heute schon beim Schwimmen im Wasserschatten der ersten Gruppe an und hört beim ‚Mitrollen‘ in der Führungsgruppe auf! Die Zeiten, in denen in einem erstklassig besetzten Starterfeld die guten Radfahrer mit einem 2:50er-Marathon noch ihre Chancen auf den Sieg wahrten, gehören endgültig der Vergangenheit an!“ Faris Al-Sultan erweckt den Eindruck, dass er den alten Zeiten ein wenig nachtrauert, in denen der ursprüngliche Gedanke des Triathlon noch aufrecht erhalten werden konnte, vom Startschuss bis zum Zieleinlauf nahezu ganz auf sich alleine gestellt zu sein. „Gerade auf Hawaii ist das Rennen meistens schon gelaufen, wenn man nicht in der Führungsgruppe ist, liegt die Krafteinsparung – auch bei regelkonformen Abständen – um durchschnittlich 20 Watt niedriger als beim Führenden, von dem Einsparungspotenzial derjenigen, die sich in großen Pulks bewegen, einmal ganz abgesehen. Das war nicht die Intention des Ganzen, leider“, beschließt Faris ein für ihn ungeliebtes Kapitel.

Profis im Wandel der Zeit
Angesprochen auf seinen bisherigen Saisonverlauf und die Reaktionen der Münchner Lokalpresse auf den hervorragenden zweiten Platz beim Abu Dhabi International Triathlon, schüttelt Faris verständnislos den Kopf, weil sein Sieg auf Sri Lanka, einem eher sehr schlecht besetzten Rennen auf der Mitteldistanz, weitaus höher bewertet wurde. „Ein erster Platz, egal wo Du den erreichst, scheint fachfremde Medienvertreter einfach mehr anzuziehen. Aber wer will es ihnen auch verdenken, wenn die Fülle an Veranstaltungen, auch unter Berücksichtigung des Streckenprofils und des Starterfeldes, nicht wirklich miteinander vergleichbar sind“, betreibt Faris Ursachenforschung und erinnert an den Ironman Canada von 1996. „Damals gewann Thomas Hellriegel in 8:09:53 Stunden – eine Leistung auf einem der anspruchsvollsten Langdistanzkurse, die bis heute ihresgleichen sucht und eigentlich nie richtig wertgeschätzt wurde.“

Obwohl Faris die Einführung des Kona Punkterankings begrüßt und dadurch sichergestellt wird, dass die besten Langdistanzler in der Bucht von Kona auf den Startschuss warten, kritisiert er im gleichen Atemzug das System. Auch wenn die zu vergebenden Punkte und Preisgelder für die Kontinentalmeisterschaften in Melbourne, New York und Frankfurt vergleichsweise hoch sind und die Idee eines „Grand Slams“ grundsätzlich in die richtige Richtung führt, entfallen gleichzeitig gut dotierte Antrittsprämien, insbesondere dann, wenn der Athlet unter Zugzwang steht und dringend Punkte für seine Qualifikation benötigt. Nicht umsonst hatte der Ironman in Frankfurt unter den Athleten den Ruf eines „little Hawaii“. Vielen Athleten fehlt mittlerweile einfach der finanzielle Anreiz, sich ausschließlich auf die Rennen der Marke Ironman zu konzentrieren.

Erschwerend hinzu kommt seiner Meinung nach, dass einfach zu viele Profis am Start sind. „Es kann nicht sein, dass jeder Hansel ohne Leistungsnachweis eine Profilizenz beantragen kann. Sicherlich hört es sich für die Medien und Zuschauer toll an, wenn Veranstalter von dem größten Profifeld aller Zeiten reden, aber wenn letztendlich von 60 gemeldeten Profis nur zehn bis fünfzehn eine gewisse Qualität vorweisen können, ist die Presseaussendung wertlos“, lässt Faris seinem Unmut deutlich freien Lauf und befürwortet die Einführung von konkreten Leistungsnachweisen. „Das Vorlegen einer Profilizenz eines nationalen Dachverbandes als Voraussetzung für den Antrag einer Pro Membership ist zu wenig und kein Qualitätsmerkmal. Hier müssten sich die World Triathlon Corporation und die International Triathlon Union an einen Tisch setzen und eine gemeinsame Lösung finden.“

Das Buch des Lebens
Während unserer zweistündigen Unterhaltung fiel das Wort Fairness kein einziges Mal, allerdings lag es die ganze Zeit wie ein unsichtbarer Schatten im Raum. Ich erinnerte mich an ein TRITIME-Kurzinterview aus dem Jahre 2008, bei dem er sich zur Fairness äußerte: „Musst du nicht haben. A… kommen ziemlich weit, stehen aber Gott sei Dank im Buch des Lebens.“ Da Letzteres einen religiösen Hintergrund besitzt und nicht nur im Christen- und Judentum, sondern auch im Islam eine wichtige Rolle spielt, interessierten mich natürlich die Taten, die in seinem persönlichen Kapitel wohl zu finden seien. „Die Vorstellung, dass dir am Jüngsten Tag all deine guten und schlechten Taten vorgelesen werden, man sich insbesondere für die weniger guten Dinge rechtfertigen und um Gnade bitten muss, bereitet verständlicherweise vielen Menschen Angst. Glücklicherweise werden aber auch all diejenigen, die im Leben schreiend ungerechte Dinge verbrochen haben, vom Propheten Jesus gerichtet und ihr Fett abbekommen“, beginnt Faris Al-Sultan, ohne zu zögern. Er zeigt sich selbstkritisch und gibt zu, gerade im zwischenmenschlichen Bereich das eine oder andere Mal die Idealspur verlassen und nicht so gehandelt zu haben, wie er es hätte tun sollen. Ansonsten bezeichnet er sich selbst als einen freundlichen und hilfsbereiten Menschen, von dem man prinzipiell alles bekommt, wenn man ihn höflich darum bittet und er das Gefühl hat, nicht ausgenutzt zu werden. Letztendlich sind es jedoch die Kleinigkeiten des täglichen Miteinanders, wie zum Beispiel jemandem Mut zusprechen oder einfach nur aktiv zuhören, die Faris Al-Sultan auf der Habenseite seiner Karma-Box verbucht und gesammelt sieht. Insofern sollte der charismatische Triathlet diesem Tag X relativ gelassen entgegensehen.

Text: Klaus Arendt
Fotos: Klaus Arendt | Armin Schirmaier

Quelle: tritime (Ausgabe 4-2012)