Pulsmesser im Training: sinnvoll oder nicht?

Herzfrequenz
Herzfrequenz

Herzenslust_PulsSeit über 30 Jahren betreibe ich nun schon Triathlon. In dieser Zeit habe ich jede Menge wunderbarer Entwicklungen verfolgt. Gerade die bunte Triathletenschar war von Anbeginn immer besonders innovativ und experimentierfreudig.

Im Gegensatz zu konservativeren Sportarten war bei uns stets das neueste „Spielzeug“ angesagt! Von elchgeweihähnlichen Zeitfahrlenkern über Pulsmesser und Kompressionsstrümpfen bis hin zu besonders aerodynamischen Fahrräder mit sündhaft teuren Wattmessgeräten. Wir haben „alles“ ausprobiert. In diesem Artikel möchte ich mich kritisch mit der Thematik Herzfrequenzmessung auseinandersetzen. Als eines von vielen möglichen Beispielen zeigt es sehr deutlich, wie unreflektiert in unserem Sport dem neuesten Trend hinterhergejagt wird, ohne sich allzu lange zu fragen, was das mir im Einzelnen bringt.

Die nachfolgenden Anmerkungen geben die persönliche Meinung und Erfahrung des Autors wider:

  1. Ist der primäre Nutzen eventuell vor allem der damit einhergehende Status? Wenn ich mir einmal die teilweise absurden Situationen anschaue, in denen der Pulsgurt um die Brust geschnallt wird, wird sehr schnell klar, wie entscheidend in Wirklichkeit der Statusgewinn ist. Ein extremes Beispiel ist hier sicherlich der berühmte Underpants Run in der Ironman-Woche in Kona. Nur mit Unterhosen bekleidet – aber natürlich mit Pulsgurt. Eine herrliche Persiflage dieses Genres.
  2. Das Thema Status kommt auch in anderem Gewand daher: Nämlich in der Häufigkeit der von der Technik ausgesendeten, natürlich völlig wichtigen, Töne. Da piept es auf Teufel komm’ raus. Nicht nur, dass das Tragen des Pulsgurtes nicht wirklich angenehm ist, nein, das wilde Gepiepse belästigt auch noch die Mitläufer, die meist weniger daran interessiert sind, dass schon wieder ein Kilometer gelaufen wurde oder daran, ob wir gerade unsere vorher ganz eng gesetzten Pulsober- oder -untergrenzen überschritten haben.
  3. Was mich zum nächsten Punkt bringt: Wie praktikabel ist es wirklich, fünf, sieben oder gar mehr Puls- bzw. Trainingszonen einzurichten, nach denen wir haargenau trainieren sollen? Sind wir wirklich in der Lage, konstant zwischen HF 128 und 142 zu laufen und bringt mich das trainingstechnisch tatsächlich entscheidend weiter? Im Labor mag’ das nebenbei EINE Sache sein, aber in der Trainingsrealität?
  4. Womit ich beim Punkt bin: Wie genau ist die Messung? Temperatur? Wetter? Schlaf? Morgens oder abends? Erholungsgrad? Wie bin ich gerade allgemein drauf? Stress? Alles Dinge, welche den Puls beeinflussen und damit das Thema herzfrequent-basiertes Training ganz schnell ins „Lächerliche“ ziehen können.
  5. Außerdem: Was bei Novizen vielleicht noch einen gewissen Informationsgehalt hat, ist für die meisten erfahrenen und gut ausdauertrainierten Athleten von minimalem Nutzen. Spannend wäre ja die Auskunft darüber, wie sich der Puls bei einer bestimmten Geschwindigkeit verhält, aber genau dieses Wissen kommt ja in der Realität kaum an. Und ansonsten: Ach ja, ich bin heute 1:15 Stunden im Durchschnittspuls von 139 gelaufen. Informationsgehalt? Fehlanzeige!
  6. Ich darf mich auch fragen, wie sinnvoll darüber hinaus ein starrer Trainingsplan mit vorgegebenen Pulswerten ist, wenn ich mich gerade besonders gut oder eben gerade nicht so gut fühle. Was hat das mit meiner Motivation und mit meinen Krankheiten oder Verletzungen zu tun?
  7. Was uns darüber hinaus verloren geht, ist ein gutes Körper- und Tempogefühl – bzw. wir erleben es als Anfänger erst gar nicht. Statt alle 20 Sekunden auf die Uhr zu schauen, täte es dem einen oder anderen vielleicht gut, ein Gefühl für sich und das gerade gelaufene Tempo zu bekommen.
  8. Manche Kollegen scheinen mehr Zeit mit der Auswertung und Interpretation (und natürlich dem Posen der bunten Kurven bei den Freunden und im Internet) zu verbringen, als tatsächlich zu trainieren. Und dann wird mal wieder gejammert, dass man ja SO WENIG Zeit hat zum Trainieren.
  9. Könnte es vielleicht sein, dass vor allem „die Anderen“ profitieren, die Wirtschaft, der Handel und technikverliebte Coaches? Alle sind daran interessiert, dass wir möglichst viele Apparate im Einsatz haben, die alle Geld kosten, gewartet werden müssen, Strom fressen, kaputt gehen und uns am Ende des Tages einen vernachlässigbar geringen Informationsgehalt bereitstellen?

Fazit: Das Trainieren mit Pulsmesser gaukelt uns ein hochwissenschaftliches Vorgehen vor, das es eben nicht ist. Die Wirtschaft und die Coaches verkaufen uns die Illusion, dass wir streng wissenschaftlich und zielorientiert vorgehen – das ist aus meiner Sichtweise blanker Hohn. Als gebildete und informierte Erwachsene sollten wir diesem Trugbild nicht verfallen. Darüber hinaus möchte ich argumentieren, dass wir unser Körpergefühl nicht entwickeln bzw. verlieren und außerdem eine ganze Portion Spaß an der Sache verlieren, wenn wir ständig nur auf die Zahlen schielen statt die wunderbare Natur, die Menschen um uns herum und vor allem UNS zu spüren.

Joerg Schneider_300x300

Jörg Schneider ist Triathlet der ersten Stunde und verfolgt seit über 30 Jahren die Szene. In den 1980er-Jahren war er Mitglied der Jugend-Nationalmannschaft, bevor er eine 12-jährige Pause vom Leistungssport nahm. Seit 2008 ist er wieder voll dabei und sammelt fleißig AK-Podium-Finshes bei Meisterschaften über alle Distanzen. Als Business-Coach, Seminarleiter und professioneller Redner verfügt er als Experte für Motivation und mentale Strategien über das notwendige psychologische Wissen, das neben dem rein körperlichen Training zum Erfolg führt.
Trainings-Website: joergschneidertraining.de
Redner-Website: jhschneider.de